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Berlin Daily 13.03.2025
Führungen durch die Ausstellung mit Andrea Pichl

17 Uhr: im Rahmen der Ausstellung "Geschichte findet statt." Galerie Pankow | Breite Straße 8 | 13187 Berlin

Ein epochales Werk - Fotografie als Sozialgeschichte und ästhetisches Vergnügen

von Daniela Kloock (14.03.2025)


Ein epochales Werk - Fotografie als Sozialgeschichte und ästhetisches Vergnügen

Ludwig Schirmer
aus der Serie Ein Dorf, 1950–1960
© Ludwig Schirmer/OSTKREUZ


Seit dem Start von Instagram wurden über 50 Milliarden Fotos auf der Plattform geteilt und täglich kommen 95 Millionen hinzu. Diese Fotos sind unkuratiert, wahllos, zügellos, zuweilen auch schamlos. Doch in der stetig steigenden Springflut dieser „Erscheinungen“, die angeklickt und gleich darauf vergessen werden, existieren noch Fotografien/Bilder, die zum Verweilen und Erkunden einladen. Die uns anziehen, weil sie etwas versprechen oder verheißen – nämlich das, was Roland Barthes das „Prinzip des Abenteuers“ nennt.

„Ein Dorf“ lautet der schlichte Titel, den Ute und Werner Mahler und Ludwig Schirmer für ihre Langzeitbetrachtung gewählt haben. Wie diese drei Fotografen über 70 Jahre hinweg den Alltag im thüringischen Dorf Berka festgehalten haben, ist schlicht sensationell und ja, ein Abenteuer. Wir erleben durch ihren präzisen soziologischen und gleichermaßen intimen Blick, wie politische Verhältnisse auf ein Dorf einwirken, was „gesellschaftliche Systeme“ und historische Transformationsprozesse mit den Menschen und ihrer Umgebung machen. Ganz ohne Worte.

Die Schwarz-Weiß-Fotografien umfassen vier Werkgruppen. Die Zeitreise beginnt in den 1950er und 60er Jahren als Ute Mahlers Vater Ludwig Schirmer neben seiner Arbeit als Müller autodidaktisch das Dorfleben in exemplarischen Szenen extrahierte. Schirmer, später in Ost-Berlin einer der erfolgreichsten Werbefotografen der DDR, zeigt Frauen bei schwerer Feldarbeit, Kinder, viele Kinder auf matschigen Wegen zwischen alten, unbeschadeten Fachwerkhäusern, aber vor allem auch die Höhepunkte des Jahres: Hochzeiten, Taufen, Umzüge, Kirmes, den Erbsbär als Dorfschreck, Frühlingsfeste.

Szenerien von großer Eindringlichkeit, Eleganz, Zartheit und Dichte. Fast kinematographische Bilder. Genial komponiert, mit einer Tiefenschärfe und Brillanz, die wohl nur im Analogen möglich ist. Sie erinnern an Filme des italienischen Neorealismus, an Federico Fellini, Vittorio de Sica, oder Pier Paolo Pasolini. An letzteren vor allem, weil so viel Bewegung und Lebensfreude herrscht. Trotz Nachkriegszeit, Mangel und schwerer Arbeit. Wie aus einer längst verlorenen Zeit tauchen diese Bilder auf, als Dinge noch so etwas wie eine Aura hatten, Menschen noch so etwas wie Würde.

In den späten 1970 Jahren reiste Werner Mahler für seine Abschlussarbeit an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst nach Berka. Auch er, der Schwiegersohn Schirmers, konzentrierte sich auf jährlich wiederkehrende Ereignisse, auf bestimmte Orte und Persönlichkeiten. Auch seine Fotografien bestechen durch ihre Präzision. Das Dorf hat jetzt bereits einige gepflasterte Straßen und die Pferdefuhrwerke sind durch knatternde Landmaschinen ersetzt worden. Eine Frauenfeldbrigade wird mit einem von einem Traktor gezogenen Anhänger eingesammelt. Noch ist vieles reine Handarbeit, beim Einsammeln von Feldfrüchten oder Heilkräutern, beim Backen und Schlachten.

Zwar wird immer noch gefeiert und getanzt, auch der Erbsbär, diese heidnisch-gruselige Kirmesfigur, ist noch da, doch in den Gesichtern meint man Skepsis, Distanz, ein Abwarten zu spüren.
Fast 30 Jahre später erhielt Werner Mahler vom STERN den Auftrag, seine damalige Arbeit zu aktualisieren. Das Magazin wollte die Veränderungen nach dem Mauerfall zeigen, die von Helmut Kohl beschworenen blühenden Landschaften. Doch Mahlers Fotografien erfüllten diesen Wunsch nicht, sie wurden nicht veröffentlicht. Denn seine Bilder lassen bereits erahnen, was sich ein knappes Vierteljahrhundert später in aller Deutlichkeit abzeichnete.

Ute Mahler
aus der Serie Ein Dorf, 2021/22
© Ute Mahler/OSTKREUZ


Berka, das Dorf, es hat sich in sich selbst zurückgezogen. Kein Ort mehr für Feiern, Gemeinsamkeiten, zufällige Begegnungen. Die einstigen Fachwerkhäuser sind längst glatt verputzt, umsäumt von grauenvoll gestutzten Hecken. Der Modernisierungswahn im Zeichen des Kapitalismus hat das Soziale gründlich zerstört, alles Leben hinter geschlossene Fenster verdammt. Dafür gibt es riesige Garagen, vor denen immer längere Blechkarossen stehen, Gartenbänke, auf denen niemand sitzt, Vogelhäuser ohne gefiederte Besucher. Nur der Erbsbär hat erstaunlicherweise überdauert. Allerdings muss er sich jetzt vor ein Auto werfen, um noch Kontakt zu bekommen. Kein Wunder also, dass Ute Mahler, deren Fotografien diese vierte Werkgruppe aus den Jahren 2021/22 umfasst, sich lange vorher mit Jugendlichen zum Shooting verabreden muss. Sie fotografiert u.a. 14-Jährige, die alle in dem Alter sind, in dem sie selbst Berka verlassen hat. Welcher Zukunft sie entgegen sehen, bleibt dunkel und vage, doch man spürt, dass auch sie das Dorf bald verlassen werden.

Was bleibt von dem Begriff Heimat? Welche sozialen Gemeinsamkeiten wird es noch geben, wenn diese Jugendlichen erwachsen sind? Fragen und Gedanken, die nicht mehr unmittelbar mit einem Dorf in Thüringen zu tun haben, sondern überall gestellt werden können, wo Modernisierungsprozesse unerbittlich voranschreiten.

So ist „Ein Dorf“ nicht nur eine kongeniale Epochengeschichte in Schwarz-Weiß-Bildern, sondern auch ein anschauliches Lehrstück über den Preis, den das Leben in der sogenannten bürgerlichen Moderne fordert - über die Veränderungen von Lebenstilen und Alltagskultur, über den Verlust von Ritualen, von direkter Gemeinschaft und lokaler Verortung.

Die Ausstellung in der Akademie der Künste, die leider viel zu wenig Bilder aus dem Gesamtwerk von „Ein Dorf“ zeigt, läuft bis zum 5. Mai


Zeitgleich zu „Ein Dorf“ ist in der Akademie der Künste am Hanseatenweg die Ausstellung „was zwischen uns steht. Fotografie als Medium der Chronik“, die zentrale Festivalausstellung des EMOP Berlin – European Month of Photography 2025, zu sehen.

Ein Dorf 1950–2022.
Ute Mahler, Werner Mahler und Ludwig Schirmer

Laufzeit: 28. Februar 2025 – 4. Mai 2025

Öffnungszeiten: Di – Fr 14 – 19 Uhr, Sa + So 11 – 19 Uhr
Eintritt: € 10/7, frei bis 18 Jahre und jeden Dienstag

Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
Tel. 030 200 57-2000, info@adk.de
www.adk.de

Daniela Kloock

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