16 Uhr: im Rahmen der Ausstellung LAYER CAKE mit Andrea J. Grote, Yuki Jungesblut, Liz Dawson, Vivian Eckstein und Hans-Peter Stark Axel Obiger | Brunnenstr. 29 | 10119 Berlin
Die kleine Geschichte im Verhältnis zur großen, das Private im Verhältnis zum Politischen, der weibliche (Inuit-)Körper im Verhältnis zum Kolonisator – darum geht es in der Ausstellung „Arctic Hysteria“ der Künstlerin Pia Arke (1958, Grönland – 2007, Dänemark) in den KW - Institute for Contemporary Art. Auf zwei Etagen geben die über 100 Exponate einen Einblick in das beeindruckende Werk einer Künstlerin, die jenseits postkolonialer Kreise der nordischen Länder bisher kaum bekannt ist. Das dürfte sich angesichts der Wucht dieser Retrospektive bald ändern.
Pia Arke wurde 1958 an der Nordostküste Grönlands als Tochter einer Inuk-Mutter und eines dänischen Vaters geboren. Als „mongrel“, wie sie sich selbst bezeichnet, was so viel wie „Mischling“ bedeutet, wächst sie in einem Land auf, das erst kürzlich formal „dekolonisiert“ wurde, in dem jedoch die kolonialen Strukturen und die daraus entstandenen Verletzungen noch allgegenwärtig sind.
Ab 1987 studierte sie an der Königlich Dänischen Kunstakademie Malerei und Fotografie. Vor allem letzteres wird schnell zu einem wichtigen Medium ihrer künstlerischen Praxis, die um das Schweigen kreist, das Grönland und Dänemark um die kolonialen Verhältnisse errichtet haben. Fotografie – die Arke als imperiale und koloniale Technologie versteht – wird ihr Mittel der Ermächtigung und des Widerstands: gegen die aufgezwungenen Machtverhältnisse, gegen das erfahrene Othering und gegen die auferlegte Kategorisierung. Sie baute sich eine an ihre Körpermaße angepasste Camera Obscura, die sie betreten konnte, um so physisch Teil des Bildherstellungsprozesses zu werden. Teilweise performt sie während der Belichtungszeit innerhalb des Kamerahauses, in anderen Fällen nutzt sie die Aufnahmen der Orte ihrer Kindheit als Kulisse für ihre im Studio inszenierten fotografischen Schichtungen. Die so entstandenen Werke wie „Self-Portrait“ (1992) oder „Untitled (Kronborg Series II)“ (1996) zeigen ihren Körper in Interaktion mit der Landschaft und sind starke Akte der Ermächtigung und Zusammenführung des Inuit-Körpers mit seinem Land. Immer wieder thematisiert Arke den Blick des Kolonisators auf „sein“ Objekt und stellt ihm widerständige, meist weibliche Subjekte gegenüber: In „The Three Graces“ (1993) ist sie mit ihrer Cousine Karola Arqe Jørgensen und ihrer Freundin Susanne Mortensen vor dem Hintergrund ihres ikonischen, in Nuugaarsuuk entstandenen Panomaras zu sehen. Sich in ihrer Haltung und Mimik auf ethnographische Aufnahmen des 19. Jahrhunderts beziehend, verweigern sich die drei Frauen dem objektivierenden Blick und spielen mit den Stereotypen, auf die sie festgeschrieben werden.
Um der binären Logik zu entkommen, die sie als grönländisch-dänischen „mongrel“ entweder als ethnografisches Objekt oder als ethnografisches Subjekt definiert, nimmt Pia Arke sich einen „third place“, einen „dritten Ort“, von dem aus sie ihre Stimme erhebt. Ihr wegweisender Text „Etnoæstetik“ (1995) bezieht sich auf diesen „third place“ und kann ebenfalls als Akt der Rückeroberung verstanden werden: Der Begriff Ethnoästhetik wurde von dänischen Kunsthistoriker*innen für Kunst aus Grönland verwendet.
In ihrem Werk, das neben Fotografie, Performance und Text auch Collage, Skulptur und Video umfasst, spielt das Archiv eine besondere Rolle. Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung ist eine Akte, die sie 1995 im Archiv des Explorers Club in New York findet und die den Titel „Pibloctoq - Arctic Hysteria“ trägt. Die Akte enthält das Foto einer Inuk, die von weißen Forschern festgehalten wird. Als Arktische Hysterie bezeichneten die Kolonisatoren ein vermeintlich gefährliches Verhalten vornehmlich weiblicher Inuit, dem oft eine Art Amnesie vorausging. Bei dieser Pathologisierung blieben die Ursachen unbeachtet: Der psychische Stress durch die Kolonisierung und die damit verbundene Entfremdung und Traumatisierung.
Arkes Bitte, das Bild kopieren zu dürfen, wurde abgelehnt - das Antwortfax des Explorers Club ist in der Ausstellung zu sehen. Ausgehend von diesem Fund und der Überzeugung, dass der Übergriff auf die abgebildete Frau, die Aufnahme der Fotografie und die Verweigerung der Kopie denselben Gewaltmechanismen folgen, begann Arke, sich intensiv mit Archiven zu beschäftigen. Verstanden als paternalistisch kolonial strukturiertes Narrativ, ordnete die Künstlerin archivalische Quellen neu, schrieb ihre Familiengeschichte und die zahlreicher anderer Inuit in dieses Material ein. So gab sie jenen Stimmen und Erzählungen einen Raum, die zuvor stumm gehalten wurden.
In Arbeiten wie „Legend I-V“ (1999), in denen sie alte dänische geologische Karten mit Fotografien ihrer Mutter und Kolonialwaren kombinierte, wird deutlich, wie sehr das Persönliche und das Politische zusammenhängen. „I make the history of colonialism part of my history in the only way I know, namely by taking it personally”, wird sie im aufschlussreichen Begleitkatalog zitiert.
Die von Sofie Krogh Christensen kuratierte Ausstellung ist eine Einführung in eine gleichsam faszinierende wie beeindruckende künstlerische Position, die veranschaulicht, wie eine Verschiebung in der Aufteilung des Sinnlichen (Rancière) stattfindet. Dabei werden Antworten auf die Fragen „Wer kann reden?, Wer wird gehört?, Wer wird gesehen?“ neu verhandelt.
Die Schau ist Teil des dreiteiligen Sommerprogramms, mit dem sich Direktor Krist Gruijthuijsen nach acht Jahren verabschiedet.
Arctic Hysteria (Arktische Hysterie)
Ausstellungsdauer: 6. Juli – 20. Oktober 24
KW Öffnungszeiten
Mi–Mo 11–19 Uhr
Do 11–21 Uhr
Di geschlossen
KW Institute for Contemporary Art
Auguststraße 69, 10117 Berlin
www.kw-berlin.de
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