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Berlin Daily 23.11.2024
Gespräch mit Nanne Meyer

19 Uhr: Künstlerin mit dem Schwerpunkt Zeichnung. Im Rahmen der Finissage zur Ausstellung "(Dis)ordering Things". oqbo | raum für bild wort ton | Brunnenstr. 63 | 13355 Berlin

Aus dem Bauch heraus in die Welt hinein

von Hanna Komornitzyk (30.01.2022)
vorher Abb. Aus dem Bauch heraus in die Welt hinein

Kandis Williams, Eurydice, 2018. Installationsansicht. A FIRE IN MY BELLY, JSC Berlin. Foto: Alwin Lay.

Hologramme, Infrarotaufnahmen, Lara Croft: Mit A FIRE IN MY BELLY zeigt die Julia Stoschek Collection Berlin ihre bis dato umfassendste Ausstellung. Auf drei Etagen konfrontieren 46 Arbeiten von über 30 Künstler*innen mit Gefühlszuständen, denen es sich persönlich wie gesellschaftlich zu stellen gilt.

Ein leichtes Summen erfüllt den abgedunkelten Raum. Es braucht einen Moment, die Augen an das fehlende Licht zu gewöhnen und den zentral platzierten, von einer kreisförmigen Balustrade umgebenen Standventilator zu bemerken. Sonderbar, düster, irritierend – soweit vielleicht die ersten Gedanken. Doch die Konstruktion lädt zum Umschreiten ein und dann, auf der gegenüberliegenden Seite angekommen, offenbart sich die zur Wand gerichtete Installation: In buntem Lichtspektrum bewegt sich eine surreale Gestalt in einer Endlosschleife, scheint sich zu überschlagen und in sich zu kehren – nur um anschließend aus sich selbst heraus neu zu entstehen. Als würden Katharina Grosses gesprühte Farbverläufe auf Umberto Boccionis Skulptur Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum (1913) treffen, so wirkt die von einem unsichtbaren Wind im Takt des Ventilators gelenkte Figur. Eine vollkommene Darbietung in Bewegung, Fluss und Energie, von welcher der Futurismus nur träumen konnte. Doch Cyprien Gaillards L'Ange du Foyer (Vierte Fassung) (2019) scheint weniger Zukunftsvision als meditative Gegenwartsposition: Tatsächlich ist es ein genaues Abbild von Max Ernsts gleichnamigem Gemälde Der Hausengel (1937), das hier animiert und auf ein neues Medium umgedeutet wird. Das Hologramm wiederholt seine Choreographie schweigend, spielt mit der Visualität von Virtual Reality, CGI und Egoshootern. Ohne jemals konkret zu werden, ruft es einem Alptraum gleich Bildfetzen von Aggression und Trauer hervor.

Wie Gaillards Auftakt verhält sich vieles in der über drei Etagen und mehr als 30 Räume erzählten Ausstellung in der Julia Stoschek Collection: A FIRE IN MY BELLY verhandelt dringliche Themen und gegenwärtige Diskurse metaphorisch, bedeutungsoffen, immersiv. Es geht um Gefühle zum Zustand der Welt, die im Inneren stetig brodeln und dort, im Konflikt zueinander, langsam gären. Die JSC ist Bühne dieses Zustands kurz vor dem Aufschrei, und es liegt an Betrachtenden selbst, die finale Übersprungshandlung zu vollziehen und sich der Umwelt mitzuteilen. Den Ausgangspunkt bildet ein unvollendeter Film des verstorbenen US-amerikanischen Künstlers David Wojnarowicz, der gleichzeitig titelgebend für die Ausstellung ist. In zwei Filmfassungen von A FIRE IN MY BELLY (1986, 1987) reagiert Wojnarowicz auf den Tod seines engen Vertrauten Peter Hujar, der 1987 an AIDS verstarb. Viele der kurzen Sequenzen entstanden während einer Reise nach Mexiko, andere sind verschiedenen Fernsehsendungen entnommen: Hahnenkämpfe und Lucha Libre Shows reihen sich an aus dem Auto gefilmte Straßenaufnahmen. In einer anderen, stetig unterbrochenen und sich doch fortsetzenden Sequenz ist der Körper eines jungen Mannes zu sehen. Er zieht sich aus, liegt erst still im Halbdunklen, beginnt dann sich selbst zu befriedigen – verletzlich und zerbrechlich, wie aus einem Traum erwacht.


David Wojnarowicz, A FIRE IN MY BELLY (Film In Progress) and A FIRE IN MY BELLY (Excerpt), 1986–1987, Super-8-Film transferiert auf Video, 13´06´´ & 7´, Farbe & S/W, kein Ton. Videostill. Courtesy of the Estate of David Wojnarowicz and PPOW Gallery, New York.

Im begleitenden Magazin zur Ausstellung ist Wojnarowiczs Essay Postcards from America: X-Rays from Hell von 1989 zu lesen, in dem er sich mit seiner eigenen HIV-Erkrankung auseinandersetzt: “I found that, after witnessing Peter Hujar´s death on November 26, 1987, and after my recent diagnosis, I tend to dismantle and discard any and all kinds of spiritual and psychic and physical words or concepts designed to make sense of the external world or designed to give momentary comfort. It´s like stripping the body of flesh in order to see the skeleton, the structure. I want to know what the structure of all this is in the way only I can know it. All my notions of the machinations of the world have been built throughout my life on odd cannibalizations of different lost cultures and on intuitive mythologies.” Was Wojnarowicz beschreibt lässt sich auf die Ausstellung übertragen, die mit jeder Arbeit eine Introspektion einfordert. Die einzelnen Positionen sind nicht moralisch, wenig konkret, lösen Assoziationen aus: Dabei berufen sie sich sowohl auf unser persönliches als auch ein kollektives Bildgedächtnis. Während Gaillards Hausengel ein vorangegangenes Werk konkret zitiert, sind viele der übrigen Installationen als Gegenüberstellungen angelegt. Oft sind Verbindungen nur subtil angedeutet und Spannungsfelder entstehen in der individuellen Betrachtung: Am Eingang zum dritten Raum zeigt Karl Wilhelm Diefenbachs Capri (1911) eine dunkle Felsenküste im Sonnenuntergang, während einige Schritte entfernt Anne Imhofs Performerin Eliza Douglas eine Peitsche schwingt. Sie steht auf einer menschgemachten Fläche aus Beton, über die immer wieder Wellen einer rauen See schwappen. Bis zum Sonnenuntergang wird sie sich in der 30-minütigen Videoarbeit Untitled (Wave) (2021) im Wind drehen und spürbar körperlich verausgaben.


Anne Imhof, Untitled (Wave), 2021. Installationsansicht, A FIRE IN MY BELLY, JSC Berlin. Foto: Alwin Lay.

Was die Positionen vereint, ist ihre Verwendung des Videomediums im Kontext einer von Visualität besessenen Gegenwart. Oft wird unsere Wahrnehmung von filmischen Narrativen in Frage gestellt und so auch unsere kulturell angeeigneten Gefühlsreaktionen. Untermalt von Kanye Wests Ultralight Beam collagiert Arthur Jafa in Love is the Message, the Message is Death (2016) afroamerikanische Repräsentationen einer Medienöffentlichkeit, die den Blick von außen auf sie richtet: Livereportagen und Interviews mit schwarzen Amerikaner*innen; Obama, der 2015 während seiner Rede zur Trauerfeier in Charleston “Amazing Grace” anstimmt; monumentale Rapvideos; Soulsänger*innen; Proteste und Polizeigewalt; NBA-Spiele; Szenen aus Hollywood- und Fernsehfilmen. Das Gesehene wirkt vertraut – zu vertraut, um sich gut anzufühlen: Die Repräsentationen sind eindimensional, kommen wie der Film selbst einer sich ständig wiederholenden, kontrollierten Erzählung ohne Anfang oder Ende gleich. Sichtbar sind nur jene Ausschnitte afroamerikanischer Kultur(en) und Realität(en), die von einer weißen Übermacht als zulässig erachtet werden. Während es in Jafas Film das Gefühl von Vertrautheit ist, das unangenehm wird und Mediennarrativen umdeutet, ist es in Rindon Johnsons It´s April (2019) die zeitliche Ebene, die ein anfängliches Unbehagen ins Unerträgliche steigert: Der Hinterkopf einer jungen schwarzen Person ist zu sehen – pausenlos streichen zarte weiße Hände über die kurzgeschorene Frisur. Wenn BIPoC ihre Rassismuserfahrungen teilen, geht es oft um Haare: Weiße, die das Haar schwarzer Menschen berühren wollen, es immer wieder zu Sprache bringen – schon Malcolm X widmete in seiner Autobiographie, die posthum nach seiner Ermordung im Jahr 1965 veröffentlicht wurde, ein ganzes Kapitel diesem Thema. Ohne Ton läuft Johnsons Arbeit im Loop und mit jeder Wiederholung erscheint die vollzogene Handlung übergriffiger.


Arthur Jafa, Love is the Message, The Message is Death, 2016, Video, 7′25″, Farbe, Ton. Videostill. Courtesy of the artist and Gavin Brown’s Enterprise, New York/Rome.

Um Darstellungen von Intimität geht es auch in Kandis Williams´ fortlaufendem Projekt Eurydice (2018), das an die Nymphe aus der griechischen Mythologie angelehnt ist: Weil ihr Geliebter Orpheus sich bei seinem Rettungsversuch zu ihr umdreht, wird Eurydike von Hades die Rückkehr aus der Unterwelt verwehrt. Das Zwei-Kanal-Video zeigt eine Performance des Tänzers Josh Johnson in und vor der JSC: Schweißgebadet tritt er in schmalen Korridoren bis auf wenige Millimeter an sein Publikum heran. Aber die Spannung überträgt sich nicht allein über Johnsons Darbietung, sondern auch über die Reaktionen von Betrachtenden, die das Video immer wieder in den Fokus nimmt. Auf ganz unterschiedliche Weise sind sie emotional: Überforderung, Ergriffenheit, Schock, Anteilnahme, Unbehagen sind in Mimik und Gestik deutlich lesbar. P. Staffs Weed Killer (2017) konfrontiert ebenfalls mit negativen Emotionen: Während die Schauspielerin Debra Soshoux über eine zunächst nicht näher spezifizierte Krankheit spricht, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hat und die nun, der Behandlung von Unkraut mit giftigen Pestiziden gleich, mit Hilfe von Chemotherapie ausgemerzt werden soll, ist sie in Infrarotaufnahmen zu sehen. Das Vertrauen in unseren eigenen Körper ist eine fiktive Erzählung, die ganz plötzlich, so die Aussage, umgeschrieben werden kann. Peggy Ahwesh hingegen deutet eine fiktive Heldin der Popkultur um, denn She Puppet (2001) zeigt die oft absurden Abenteuer von Tomb Raider und Lara Croft: In einer Sequenz ist sie in diversen Sterbeszenarien zu sehen, die – von dem versehentlichen Sprung von hohen Klippen über das Ertrinken in einer künstlichen Lagune bis hin zu der Verfolgung durch zwei Aasgeier in einer rudimentär gerenderten Wüstenlandschaft – immer mit einem das Game Over signalisierenden, leicht hysterischen Stöhnen enden. Oft als emanzipierte Heldin gefeiert, zeigt die genaue Dokumentation eine stark überzeichnete und willenlose Figur mit fast surreal wirkenden Körpermaßen in stark sexualisierten und übergriffigen Aufnahmen, die in erster Linie dem male gaze dienen.


P. Staff, Weed Killer, 2017, Einkanal-HD-Einkanal-HD-Videoinstallation; Filmleinwand, Acrylglasplatten, Vinyl-Bodenbelag, Sitzkissen, HD-Video, 16′49″, Farbe, Ton. Videostill. Courtesy of the artist and Commonwealth and Council, Los Angeles.

Jeder Raum, jede Gegenüberstellung, jede Position ist still inszeniert, erzählt ohne jede Dramatik. Denn A FIRE IN MY BELLY ist nicht laut, es ist ein mit Nachdruck gesprochenes, konstantes Flüstern, das erst in der Auseinandersetzung den Lärmpegel der eigenen Gedanken zu übersteigen vermag. Selten habe ich so zusammengefasst und nuanciert etwas gesehen, das treffender beschreibt, wie sich – für mich – der Zustand der Welt anfühlt: die Hilflosigkeit, der Knoten im Magen, die Verzweiflung des Nichtstun-Könnens, aber auch der eigenen Passivität, der Schmerz, die Wut, die Trauer, die Tränen über das schier überwältigende Maß an Ungerechtigkeit auf jeder Ebene des globalen Zusammenlebens. Ein Jammern auf hohem Niveau und aus immensem Privileg gesprochen – doch gerade dieses Wissen um ihr Publikum macht die Ausstellung nachhaltig relevant. Wer sich allen drei Etagen in einem Besuch widmet, verlässt die Sammlung mit Schwindelgefühlen – eine so umfassende Zusammenstellung von Medienkunst überfordert und das muss sie auch. Denn was, wenn nicht eine Stellungnahme, die aus der alltäglichen Bilderflut heraus zu uns spricht, könnte die eigene Verantwortung gezielter formulieren und uns dabei helfen, die damit verbundene Ohnmacht zu überwinden.

Künstler*innenliste: Sophia Al-Maria, Peggy Ahwesh, Monica Bonvicini, Bernadette Corporation, Paul Chan, Thomas Demand, Maria Anna Dewes, Karl Wilhelm Diefenbach, Trisha Donnelly, Marcel Dzama, Tracey Emin, Brock Enright, Adam McEwen, Cyprien Gaillard, Barbara Hammer, Leila Hekmat, Anne Imhof, Arthur Jafa, Rindon Johnson, Zoe Leonard, Klara Lidén, Ana Mendieta, Asier Mendizabal, Colin Montgomery, Nandipha Mntambo, Adrian Piper, Laure Prouvost, Rob Pruitt, Robin Rhode, Bunny Rogers, Marianna Simnett, Jack Smith, P. Staff, caner teker, Kandis Williams, und David Wojnarowicz.

AUSSTELLUNGSDAUER
6. Februar 21 – 30. Januar 22

JULIA STOSCHEK COLLECTION
Leipziger Straße 60
10117 Berlin
www.jsc.art

Hanna Komornitzyk

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