Moderne Veduten mit Vanitas-Motiven. Ellen Fuhr: Zufall, Glück und Spiel in der Galerie Helle Coppi
von Urszula Usakowska-Wolff (07.01.2021)

Ellen Fuhr, Artemis, 2005, Acryl auf Leinwand, 120 x 160 cm. Foto / Courtesy Galerie Helle Coppi
Auch wenn man die Ausstellung durch die verglaste Fensterfront der Galerie betrachtet, fällt der Blick zuerst auf das Bild, das auf der gegenüberliegenden Wand hängt. Zuerst nimmt man die rechte Bildhälfte wahr: Darauf ist ein halbes Frauengesicht, woran sich der Kopf eines großen Hundes mit grünen funkelnden Augen schmiegt, zu sehen. Daneben schweben drei schwarz-weiße Spielwürfel, ein Polyeder mit fünf roten Kugeln sowie eine ovale Form, die an einen Laternenkopf oder einen orangefarben erstrahlenden Mond erinnert. Aus dem Hintergrund tauchen Hauswände und Fragmente einer Eisenbahnbrücke schemenhaft auf. Die Lichter der nächtlichen Stadt spiegeln sich in den Gesichtern der Frau und des Hundes, lassen sie wie eine Projektionsfläche für Einsamkeit und Melancholie erscheinen. Die Beiden sind zwar mittendrin, doch zugleich am Rande des Geschehens. Schwarze Konturen unterschiedlicher Stärke umgeben die hellen Figuren, verschaffen ihnen eine frappante Plastizität und Dynamik, auch wenn sie entrückt und wie an der Szene unbeteiligt wirken.
Metropole, Mond, Melancholie
Artemis heißt das 120 x 160 cm große Bild, von
Ellen Fuhr
2005 mit Acryl auf Leinwand gemalt, eine ihrer 30 Arbeiten, die in der Ausstellung
Zufall, Glück und Spiel bei Helle Coppi versammelt sind. Dieses Gemälde, offensichtlich nach der römischen Göttin der Jagd und des Mondes benannt, ist für mich eines der Schlüsselbilder der Künstlerin, die 1958 als Ellen Hertz in Berlin geboren wurde und viel zu früh im September 2017 in ihrer Heimatstadt verstarb. Es zeigt sowohl ihren unverkennbaren Malstil mit der ausholenden Geste, dem expressiven Duktus, der sparsamen Farbigkeit und den Themen, die meistens um die Großstadt (vor allem Berlin) kreisen. Die ganz oder fast menschenleeren Fragmente der Metropole wie U- und S-Bahnhöfe mit ihren Logos, Stahlträgern, Überführungen, Treppen, Uhren und den angrenzenden trostlosen Hausfassaden und Brandwänden sind einerseits eine Art moderne Veduten, andererseits Kulissen für Vanitas-Motive: Vergänglichkeit, Ortlosigkeit des Seins, Suche nach dem Sinn einer Welt, in der sich alles in einem rasanten Tempo dreht und die nicht merkt, dass der Zeiger genau auf zwölf Uhr steht. Was unverändert bleibt, sind die großen Sujets der Geistesgeschichte, die in Lärm und Hektik der Gegenwart unterzugehen drohen. Dazu gehört die griechische Göttin, die sich auf Ellens Bild auf Jagd nach den nächtlichen Eindrücken einer ruhelosen Stadt begeben hat und von einem Hund begleitet wird. Zugleich verweisen die Kugeln und Würfel auf Ellens Beschäftigung mit dem Glücksspiel. Der Hund und das Polyeder sind wiederum eine Anknüpfung an Albrecht Dürers Meisterstich
Melencolia I (1514).
Ellen Fuhr, Bahnhof Friedrichstraße, 2007, Acryl auf Leinwand, 120 x 160 cm. Foto / Courtesy Galerie Helle Coppi
Tristesse der Transitorte
Der Ausstellungstitel Zufall, Glück und Spiel ist mit Bedacht gewählt: Das sind Themen, für die sich Ellen Fuhr immer interessierte. Das Chaos der Großstadt, ihre Dynamik und Nervosität war die geeignete Szenerie für das „Nachdenken über Sachen, über die ich erfahre, die ich erlebe, die ich sehe, die mir auffallen“, sagte Ellen
im Interview, das ich im Juni 2015 mit ihr für das (leider inzwischen nicht mehr existierende) Obdachlosenmagazin strassen|feger führte. „Es sind Selbstgespräche, die, wie fast bei jedem Künstler, zu Bildern werden.“ Ihre Ideen schöpfte sie aus der Literatur, Kunstgeschichte und Wissenschaft. Das war Ellen, die sich ihr Wunderland malte: mit Schrödingers Katze, Eulen, Schildkröten und dem echten Hund Ole, den sie einst auf der Straße fand und der zum treuen Begleiter ihrer Streifzüge durch Berlin wurde. Ellens Berlin ist eine Stadt, in der die Zeit scheinbar stehen geblieben war. Es gibt darin keine Wolkenkratzer, keine Prunkbauten, keine Shopping Malls. Sie liebte die Tristesse seiner mehr oder weniger verkommenen Transitorte, ihre pulsierende Geometrie, die blau-orangenen Bahnhofsmondnächte, die schwingenden Treppen nach (n)irgendwo. Ihre Arbeiten muten wie eine bildgewordene Sinfonie der Großstadt an.
Unzählige Arbeiten aus vier Jahrzehnten
Ellen war eine der produktivsten und konsequentesten Künstlerinnen, die ich kennenlernen durfte. Das im Sommer dieses Jahres erschienene zweibändige Verzeichnis der Arbeiten aus vier Jahrzehnten, herausgegeben von ihrem Mann Günter und den Töchtern Antonia und Ida Fuhr, umfasst beinahe eintausend Seiten mit Abbildungen der Werke, die sich in ihrem Atelier und ihrer Wohnung befanden. Sie malte und zeichnete in Serien: Porträts und Kultköpfe, die Stadt, das Glück, Menschen am Meer, männliche und weibliche Akte. Sie war auch eine begnadete Grafikerin und schuf unzählige Holzschnitte und Lithografien. Diese Bilder lassen sich wie das Tagebuch einer leidenschaftlichen, aber distanzierten Beobachterin des Alltäglichen und Außergewöhnlichen betrachten, denn darin spiegeln sich Ellens Faszinationen und ihre Fragen zum Schicksal: Ist es vorgegeben, unausweichlich oder bis zu einem gewissen Grad lenkbar? Spielt der Zufall dabei eine Rolle angesichts dessen, dass es anscheinend keine Zufälle geben soll? Wenn das Leben ein Glücksspiel ist, was bringt dann die Kugel der Fortuna ins Rollen? Kann eine Allegorie die Wirklichkeit ausdrücken, wenn ihre Symbole heute unverständlich sind?
Ellen Fuhr, New York – Blaue Feuerleitern, 1998, Acryl auf Leinwand, 80 x 100 cm. Foto / Courtesy Galerie Helle Coppi
Transparenz und Tiefe der Bilder
Die 17 Gemälde und 13 Papierarbeiten von Ellen Fuhr aus den Jahren 1996–2015 in der Galerie Helle Coppi geben einen kleinen, aber repräsentativen Einblick in ihre Bild- und Gedankenwelt. Ausgewählt von der Galeristin, die mit der Künstlerin fast 30 Jahre zusammenarbeitete, prägen sich die Berliner und New Yorker Stadtansichten mit Bahnhöfen, Feuerleitern, Viadukten, Stillleben und Porträts tief ins Gedächtnis ein. Sie sind Botschaften von einer Reise durch ein ambivalentes urbanes Gebilde, das zwischen Traumsequenzen und Wirklichkeitsfragmenten, zwischen Euphorie und Melancholie, Lebensbejahung und Traurigkeit liegt. Die Bilder scheinen von einem durchsichtigen Schleier umgeben, wofür Blau – die Lieblingsfarbe der Romantik und auch von Ellen – sorgt. Ihrem Sog kann man sich nicht entziehen – und das Ultramarinblau, welches auf fast allen ihren Arbeiten auftaucht, hat eine Strahlkraft, die Yves Klein beeindrucken könnte. Es fällt auf, dass ihre Arbeiten seit Anfang der 2000 Jahre immer heller und transparenter werden. Die vielen Schichten scheinen durch, manchmal entsteht der Eindruck, dass man in ihre Tiefe schauen kann. Zufall, Glück und Spiel ist eine wunderbare Ausstellung, die man jetzt in natura leider nicht besichtigen darf. Da die Galerie eine umfangreiche Fotodokumentation auf
ihre Webseite stellte, kann sie wenigstens auf dem Bildschirm goutiert werden. Und auch darauf ist deutlich zu erkennen, was Ellen Fuhrs Werke so einzigartig und auf den ersten Blick erkennbar macht: Sie hatte Freude am Malen, weil sie auf diese Weise ihre innere und äußere Welt am besten zum Ausdruck bringen konnte.
Ellen Fuhr: Zufall, Glück und Spiel
Malerei und Arbeiten auf Papier
Galerie Helle Coppi
Auguststraße 83, 10117 Berlin
bis zum 19. Februar 2021
coppi.de
Urszula Usakowska-Wolff
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Titel zum Thema Galerie Helle Coppi:
Moderne Veduten mit Vanitas-Motiven. Ellen Fuhr: Zufall, Glück und Spiel in der Galerie Helle Coppi
Besprechung: Auch wenn man die Ausstellung durch die verglaste Fensterfront der Galerie betrachtet, fällt der Blick zuerst auf das Bild, das auf der gegenüberliegenden Wand hängt.