Verlorene Kindheiten am Rande Europas
von Urszula Usakowska-Wolff (26.10.2020)
© Charlotte Menin
Sie schauen uns an, blicken uns direkt in die Augen: Jugendliche und Kinder, die aus den Elendsvierteln der marokkanischen Städte, vor allem aus Fez, in die spanische Exklave Melilla geflüchtet sind, um sich so schnell wie möglich auf die Iberische Halbinsel, nach Deutschland, Frankreich oder Schweden durchzuschlagen. Sie glauben, dass sie dort eine Zukunft haben. Über 100 solcher Harraga genannten Minderjährigen leben, von den Einwohnern weitgehend unbemerkt, schätzungsweise auf Melillas Straßen, unter den Brücken oder im Freien. Sie nennen sich RISKY, weil sie täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, um unerkannt auf die Fähre zu gelangen, die sie nach Europa bringen wird. Für viele endet das tragisch.
Ein begehbares Buch
Dass wir jetzt die Möglichkeit haben, den Alltag, die Träume und den Existenzkampf dieser Kids, die am Rande Europas leben und von der internationalen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden, kennenzulernen, ist Charlotte Menin zu verdanken. Im Projektraum Meinblau präsentiert sie zum ersten Mal 55 Schwarzweißfotografien aus ihrer 2015 begonnen Serie
Les enfants de la frontière sud mit zum Teil überlebensgroßen Porträts von Kindern und Jugendlichen, die sie bei ihren Aufenthalten an der Südgrenze Europas in Melilla getroffen, begleitet und schließlich auf ihren nüchternen, aber buchstäblich unter die Haut gehenden Bildern verewigt hat. Weil neben den Porträts Texte hängen, in denen die jungen Marokkaner ihre Geschichte erzählen, wirkt die Ausstellung wie ein dreidimensionales Buch, das man beim Begehen betrachten und lesen kann: Charlotte Menins Protagonisten sind Menschen mit einem individuellen Namen und einem individuellen Gesicht.
Die Straßenkinder von Melilla
Ihre Schicksale, an denen uns die aus Mailand stammende und seit 2012 in Marseille lebende Fotografin teilhaben lässt, sind ähnlich: Flucht vor der Armut und fehlende Perspektiven in der Heimat, elende Existenz am Rande von Melilla, Drogen, Betteln, manchmal auch Prostitution, Prügel, Misshandlungen – und keine Chance auf eine Ausbildung. Die Schule, in der Mohamed, Noureddine, Younes, Souleyman, Ousama, Abdelsamad, Simo, Amin, Mehdi, Khalid und viele andere das Leben lernen, ist die Straße, ein hartes Pflaster, das sie schnell erwachsen werden lässt. Auch ihre Träume gleichen sich: Sie alle möchten irgendwo im gelobten Europa einen Beruf erlernen, vielleicht auch studieren, um arbeiten, den Daheimgeblieben helfen und glücklich sein zu können. Manchen gelingt das. Viele bezahlen für den Versuch, ihre Träume zu verwirklichen, mit dem Leben.
© Charlotte Menin
Eine Stadt, die nicht loslässt
Charlotte Menin, die von 1999 bis 2012 in Berlin unter anderem Fotografie an der Ostkreuzschule studierte, war während ihres Studiums zum ersten Mal in Melilla. „Wir haben damals mit einem Kollegen eine Reportage über diese spanische Exklave gemacht, das war für mich als Studentin so eine Art Fingerübung“, sagt die Künstlerin. „Die Stadt ließ mich nicht los, aber wie es im Leben oft so ist, hatte ich keine Zeit, um dahin zu fahren. Erst 2015 bin ich mit meiner Mittelformatkamera nach Melilla gereist. Das war ziemlich planlos, aber dann habe ich eines dieser Kids kennengelernt. Am Ende meines Aufenthalts habe ich von ihm erfahren, dass sein Freund, der 17-jährige Ousama, auf der Flucht vor der Polizei von einer Klippe gestürzt und gestorben war. In diesem Moment habe ich gedacht, dass ich das Leben dieser Jugendlichen zeigen muss, ich habe einigen von ihnen angeboten, Porträts zu machen. Sie waren einverstanden, und so hat sich das weiterentwickelt.“ Das Langzeitprojekt dauerte fünf Jahre.
Eine Hommage für Monsif
Ein Schlüsselbild der Serie Kinder von der Südgrenze ist für Charlotte Menin das Bildnis eines Jungen, der auf zwei seiner Freunde liegt. Es ist zugleich das größte Porträt der Ausstellung und besteht „aus 98 einzelnen DIN- A3-Blättern, die ich zusammengesetzt habe. Die Hauptfigur ist Monsif, den ich damals fotografierte – und zwei Wochen später war er ums Leben gekommen. Als ich nach Marseille zurückkehrte und meine Filmrollen noch nicht entwickelt hatte, erfuhr ich, dass er am 2. Januar 2016 beim Versuch, auf die Fähre zu steigen, ertrunken war. 2017 kam ich wieder nach Melilla, um mit Jungs, die Monsif kannten und die unter einer Brücke wohnten, eine Collage zu machen. Das war eine Art Gedenkveranstaltung für ihn. Später habe ich dokumentiert, wie diese große Collage mit der Zeit verfällt. Davor sieht man die Behausungen der Jugendlichen, die ständig zerstört werden und deshalb von ihnen immer neu errichtet werden müssen. Aus diesem Grund habe ich diese Fotografien Wohnarchitektur genannt.“
© Charlotte Menin
Bilder des Vertrauens
Charlotte Menin ist zurückhaltend, konzentriert und einfühlsam. Ihre zum Teil direkt an die Wände des Projektraums geklebten Porträtposter sind ehrlich, ungeschönt und authentisch. Man sieht, dass ihr die Fotografierten vertrauen und sich vor der Kamera weder neu erfinden noch inszenieren müssen: Das ist kein Wunder, denn die Fotografin begegnet ihnen mit Respekt und nimmt sie ganz einfach ernst. Da sitzt Reda mit einer zahmen Taube auf dem Arm und Khalid streckt die Faust mit der Tätowierung Mama in unsere Richtung aus. Es sind reale und symbolische Bilder der Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit und des Traums von der Freiheit, die sich tief ins Gedächtnis einprägen und die man nach dem Verlassen der Ausstellung noch lange vor den Augen hat. Zugleich zeigt sie, in was für einem beengten Raum sich die jungen marokkanischen Migranten bewegen, um die Chance nicht zu verpassen, ihm mit allen Mitteln zu entfliehen. Das deutet sie mit dem Bild der Fähre, das die Ausstellung einleitet, subtil an.
Charlotte Menin vor dem Porträt von Monsif. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Ohne in Rührseligkeit zu verfallen oder das Mitleid des Publikums erhaschen zu wollen, zeigt Charlotte Menin eine bewegende Reportage über Kinder, die auf der Suche nach einem besseren Leben an einer der am besten geschützten Grenzen Europas gestrandet sind. Weitgehend auf sich selbst gestellt, versuchen sie trotz aller Widrigkeiten, ihren Alltag zu meistern. Indem wir sie dabei beobachten, ihren Mut und ihre Entschiedenheit sehen, verstehen wir viel besser, warum sie all diese Demütigungen, Entbehrungen und Risiken in Kauf nehmen, um in einem ihrer europäischen Sehnsuchtsorte ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Sie lassen sich durch nichts abschrecken und aufhalten, und viele werden ihr Ziel erreichen, denn sie haben ja nichts zu verlieren: Auch das macht diese großartige Ausstellung deutlich.
LES ENFANTS DE LA FRONTIÈRE SUD
Fotografien von Charlotte Menin
Meinblau Projektraum
Auf dem Pfefferberg, Haus 5
Christinenstraße 18-19
10119 Berlin
bis 8. November 2020
Do — So 14— 19 Uhr
meinblau.de
Eine Ausstellung im Rahmen von EMOP
Urszula Usakowska-Wolff
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