Auf rotem Teppich, mit Gold unter den Füßen: Paweł Althamer bei neugerriemschneider in Berlin-Mitte
von Urszula Usakowska-Wolff (23.07.2020)
Was für eine Überraschung! Nachdem wir durch den Haupteingang die in einem Hinterhof liegende Galerie neugerriemschneider betreten, bietet sich ein für solche Orte ungewöhnlicher Anblick. Ein roter Teppich, der fast den ganzen Fußboden belegt, fordert zuerst die Aufmerksamkeit. Darauf sind Hammer, Beile, Schraubenzieher, Pinsel, Schnurknäuel, Feilen, Hufraspeln, verkohlte Baumrinde und … angekokelte halbierte Knoblauchknollen, Holzspäne, Asche, Stöcke, Bohrer, weißer und goldener Staub verstreut. Die vielen schwarzen Flecken auf dem Teppich entpuppen sich als mit schnellen Strichen ausgeführten Zeichnungen. Auf der rechten Seite der großen lichten Halle sind überlebensgroße Holzskulpturen gruppiert. Manche sind schon fast fertig. Poliert und teilweise polychrom, wobei ihre Farben sich auf rot, schwarz, weiß und gold beschränken, bestechen sie durch raffinierte Formen, die an klassische und indigene Skulpturen oder an eine Mischung aus beiden erinnern. Andere sind noch in statu nascendi, wovon die darin steckenden Werkzeuge künden. Im Feuerkorb neben einem weißen, ziemlich mitgenommenen Hocker, liegen zum Teil verbrannte Zeitungen und Reisig. Langsam leuchtet es ein: Wir befinden uns im Atelier eines Holzbildhauers, der seinen Arbeitsplatz mitten im Schöpfungsprozess verlassen hat.
Feilen wie Pfeile und Julia mit Lilie
Diese auratische Inszenierung, mit der Paweł Althamer (* 1967 in Warschau) die Galerie neugerriemschneider in eine traditionelle Holzbildhauerwerkstatt verwandelt, heißt schlicht und einfach
Unerwartet. Das ist tatsächlich in mehrfacher Hinsicht der Fall. Unerwartet ist der Blick hinter die Kulissen der Kunstproduktion, eines anstrengenden und langwierigen körperlichen Vorgangs, in dem vor allem handwerkliches Geschick, Geduld und grenzenlose Fantasie gefragt sind. Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit und viel Dreck, auch wenn er aus Blattgoldstaub besteht. Unerwartet und dennoch vertraut sind schließlich die offensichtlichen Inspirationsquellen: Antike, Gotik, Moderne, Pop Art und die meisterhaften Holzschnitzereien der malischen Dogon. Kunst ist für Althamer ein Gebilde, in dem sich Epochen, Stile, Kontinente und Mythen durchdringen und befruchten, um ein Déjà-vu -Erlebnis herbeizuführen. Unter den insgesamt elf von allen Seiten begehbaren Skulpturen trägt nur eine keinen weiblichen Namen. Das ist
Tree (Der Baum) mit einem leidenden männlichen Antlitz, rundherum gespickt mit Sägen und Feilen wie der heilige Sebastian mit Pfeilen. Die weiblichen Statuen
Gosia (nur mit roten Flip Flops bekleidet) und
Kamdi scheinen mit den Karyatiden verwandt zu sein, wobei die letztere, mit schwarz-weißen Streifen, Linien und Kreisen im Stil der Op Art bemalt, auf dem Kopf steht.
Hemma wiederum wirkt wie eine Galionsfigur. Und das Haupt der schönen
Julia, auf die sich alle Blicke richten, krönt eine Emaille-Waschschüssel mit einer echten Madonnenlilie.
Werkstatt der Freundschaft
In der Ausstellung
Unerwartet gewährt Paweł Althamer Einblicke in sein mystisches und zugleich profanes Kunstuniversum, das er zusammen mit nahen Verwandten und Freunden gestaltet. Das ist seine Familie, auf die er immer zählen kann, wenn ihm ein neues Projekt vorschwebt. Er ist der Meister einer Werkstatt, in der sein partizipatives und kooperatives Œuvre ausgeführt wird. Die Kunst ist ein Gemeinschaftswerk und ein Fest, in dem die Schönheit gefeiert wird. Auch die der Bäume, welche gefällt, also getötet werden müssen, um als bewundernswerte oder gefragte Objekte ein posthumes Leben in Galerien, Museen oder Privatsammlungen zu führen. Doch auch dieses währt leider nicht ewig. Alles ist vergänglich. Die Urne im hohlen Rückenteil der Maske, auf der
Diana kniet, weist darauf hin, wohin der Weg alles Irdischen geht: unter die Erde. Das Gesicht und der Torso dieser vermutlich jungen Frau sind unkenntlich, denn mit Schimmelpelz bedeckt. An der Stelle, wo sonst der Hals ist, trägt sie eine Kette aus Pferdezähnen wie ein Amulett. Diese Statue scheint, wie übrigens auch
Tree und die gerade im Werden begriffene
Eve (mit einer Kettensäge im unteren Hinterteil), von Totems inspiriert zu sein. Zwischen ihr und
Diana steht
Madame Notre Dame aus verbranntem Holz mit einem kleinen alten Männchen auf dem linken Arm. Ihre Köpfe schmücken eine Art Türme. Ist es eine Anspielung auf den verheerenden Brand der Pariser Kathedrale im vorigen Jahr?
Unbeschreiblich feminin und maskulin
Ein Kunstwerk ist nie fertig, meint Paweł Althamer, denn auch, wenn es vom Künstler vollendet wird und besichtigt werden kann, gibt es viel Raum für Interpretationen. Die Skulpturen sollte man deshalb langsam umrunden und ergründen, denn sie enthalten viele, auf den ersten Blick unsichtbare Details. Zum einen sind die Frauenfiguren zwar unbeschreiblich weiblich, sie haben ansehnliche Brüste und sexy Pos, doch einige wirken ausgesprochen maskulin. Geneva, welche, wie zu erfahren ist, die Ehefrau des mit dem Warschauer Künstler befreundeten Dogon-Bildhauers Youssouf Dara aus Mali verkörpert, hat eine Art Ziegenbart und trägt so etwas wie eine Pilotenhaube auf dem Kopf. Androgyn wirken auch die anderen an die Dogon-Kultur anknüpfenden Skulpturen:
Case for Dogon Queen und
Kanaga, die einzige Liegende in diesem Kreis. Für Althamer ist Kunst ein Mittel, um „freundliche Energien“ freizusetzen und sie mit anderen auszutauschen. Er ist bestrebt, Orte zu schaffen, in denen er auch Nichteingeweihte mit seinem Elan anstecken möchte, wo sie gerne und lange verweilen und sich gut fühlen, obwohl sie mit existentiellen Themen konfrontiert werden. Ihr Sinnbild sind die zu einem Stillleben arrangierten, zum Teil vergoldeten Bildhauerwerkzeuge mit einer Flasche und einem altmodischen Wecker, die auf einem schwarzen Vierstufenpodest in der hinteren linken Ecke der Halle stehen.
In der Inszenierung
Unerwartet nimmt die Kunst alles in Beschlag: den Fußboden, die Fensternische, das kleine Tischchen davor, die mit Zeichnungen bedeckten Wände. Alltägliches wird zur Kunst, zu einem heiter-melancholischen Spiel, das in einem artifiziellen, aber sehr wirklichkeitsnahen Atelier inszeniert wird. Vom Künstler gerade verlassen, befindet es sich in einem Zustand zwischen Chaos und Ordnung. Fast alles ist hier erlaubt. Der rote Teppich dämmt die Schritte. Die Schuhe der Ausstellungsgäste hinterlassen Spuren im kostbaren Staub. Auch für sie hat Althamers Handwerk einen goldenen Boden.
Paweł Althamer
Unerwartet
bis zum 8. August 2020
neugerriemschneider
Linienstraße 155, 10115 Berlin-Mitte
Öffnungszeiten: Di–Sa 11–18 Uhr
Telefon: 030 28877277
www.neugerriemschneider.com
Unser Video vom 28.10.2011: Pawel Althamer im Deutsche Guggenheim Berlin
http://www.art-in-berlin.de/incbmeldvideo.phpUrszula Usakowska-Wolff
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Auf rotem Teppich, mit Gold unter den Füßen: Paweł Althamer bei neugerriemschneider in Berlin-Mitte
Ausstellungsbesprechung: Was für eine Überraschung! Nachdem wir durch den Haupteingang die in einem Hinterhof liegende Galerie neugerriemschneider betreten, bietet sich ein für solche Orte ungewöhnlicher Anblick.