19:00 Uhr: Verpuppte Kunst. Marionetten in der europäischen Avantgarde. online + Einstein Forum | Am Neuen Markt 7 | 14467 Potsdam
Feier zum Tag der Deutschen
Einheit
Berlin, 1990, © Roger Melis
Roger Melis (1940-2009) war einer der bedeutendsten Fotografen der DDR. Zehn Jahre nach seinem Tod widmet ihm die Stiftung Reinbeckhallen in Oberschöneweide die bislang umfangreichste Retrospektive unter dem Titel Die Ostdeutschen mit 160 Schwarzweißfotografien, die auf nüchterne und unspektakuläre Art ein differenziertes Bild der in der DDR lebenden Menschen zeigen.
Obwohl Roger Melis mit 21 Jahren „Republikflucht“ begehen wollte, woran ihn seine Eltern im letzten Augenblick hinderten, glaubte er bis zum Ende seines Lebens, dass ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz möglich sein könnte. Unbestritten ist: Fotografien, die der Berliner in der Stadt, auf dem Land, an der Ostsee, in privaten und öffentlichen Räumen aufgenommen hat, verleihen der kollektivistisch ausgerichteten DDR individuelle menschliche Züge. Auch wenn er Massenveranstaltungen, Massenvergnügungen, Arbeitsbrigaden, Häfen und andere Großbetriebe fotografierte, richtete sich sein Augenmerk auf das Individuum, das er immer in den Vordergrund stellte. Das war ein subversiver Akt, zumal der Hintergrund, vor dem seine Reportagen und viele Porträts entstanden, eine Auskunft über den ungeschönten Zustand der DDR gab: Abseits der „spontanen“ Demonstrationen an verschiedenen Jahrestagen und der modernen Plattenbausiedlungen lag ein archaisches, dem Verfall anheimgefallenes Land.
Eva Maria Hagen
Berlin, ca. 1965, © Roger Melis
Ehrfurcht vor dem Individuum
Die von Mathias Bertram, Nachlassverwalter von Roger Melis, zusammengestellte und kuratierte Schau gleicht einem begehbaren Bildband mit 21 Kapiteln, die eine Zeitspanne vom Anfang der 1960er Jahre bis zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 umfassen. Viele der Bilder, wie etwa jene von der recht gespenstisch wirkenden ersten Einheitsfeier am Brandenburger Tor oder das subtile Porträt von Eva-Maria Hagen im Spiegel, die der Kurator beim Sichten des Archivs seines Ziehvaters entdeckte, waren auch für ihn eine Überraschung und sie werden in den Reinbeckhallen zum ersten Mal öffentlich gezeigt. Andere, wie die inzwischen ikonischen Bildnisse der Schriftsteller und Schauspieler, darunter Sarah Kirsch, Bettina Wegner, Wolf Biermann, Manfred Krug, Katharina Thalbach sowie ihnen wahlverwandte kritische und aufmüpfige Geister, welche die DDR freiwillig verlassen haben, ausgebürgert oder zur Ausreise gezwungen wurden, waren schon seit langem auch „drüben“ bekannt, denn sie wurden in führenden westdeutschen Tages- und Wochenzeitungen veröffentlicht. Unabhängig davon, ob Roger Melis Prominente oder Unbekannte fotografierte, hat er „seine wichtigste Aufgabe immer darin gesehen, eindringliche Bilder von Menschen zu schaffen, ihnen dabei aber nicht die Seele zu rauben, sondern sich ihnen behutsam mit der Ehrfurcht vor dem Individuum zu nähern, die jedem gebührt“, ist in einem seiner „Bekenntnisse“ am Eingang zur Ausstellung Die Ostdeutschen zu lesen.
Sonntagnachmittag
Bitterfeld, 1974, © Roger Melis
Landarbeiterinnen, Schauerleute und Bohemiens
Sie beginnt mit dem Kapitel Ort und Zeit und führt durch Orte, die aus der Zeit gefallen sind. Viele Menschen, ihre Behausungen und Arbeitsplätze sehen aus, als stammen sie aus einer vorindustriellen Vergangenheit: Eine verzweifelte alte Landarbeiterin mit Knoten an den Händen und faltigem Gesicht steht vor einer zerfallenden Hütte, Waldarbeiterinnen posieren in einer kahlen, wie die Pampa anmutenden Landschaft in der Uckermark, Schauerleute löschen im Überseehafen eine Schiffsladung von Zementsäcken mit bloßen Händen. Als Kontrast dazu gibt es Fotos von 1.-Mai-Umzügen: In einem offenen schicken kapitalistischen Cabriolet steht die Diva Helene Weigel und verteilt großzügig Kamelle an die sich um sie scharenden Kinder: ein bisschen Kölle in Ostberlin. Es gibt auch andere Bohemiens auf den Bildern von Roger Melis: Die spärlich bekleidete Modegruppe Chic, Charmant und Dauerhaft feiert eine hedonistische Party. Ein anderes Bild zeigt Zwillingsbrüder, die so schön und verführerisch sind, dass sie den Eindruck erwecken, sich lediglich als Maurer verkleidet zu haben.
Almstadtstraße (Hommage à
Friedrich Seidenstücker)
Berlin, 1976, © Roger Melis
Soldaten stehen, Tauben gehen
Roger Melis war ein Chronist der real existierenden Absurditäten, die zum Alltag der Ostdeutschen gehörten. Da lehnt eine weiße Badewanne an die schmutzige Mauer eines Hinterhofs in der Chausseestraße, eine korpulente Verkäuferin strahlt an der Theke eines Fischladens, in dem es fast nichts zu kaufen gibt, zwei behelmte Soldaten mit Bajonetten stehen stramm vor der Neuen Wache, während ein paar Schritte von ihnen entfernt zwei Tauben auf den schlampig verlegten Steinplatten gehen. Eine grimmige alte Frau mit einer Regenhaube auf den ondulierten Haaren ballt klassenkämpferisch die rechte Faust, hinter ihr ein Banner der Jungen Pioniere mit dem Slogan „Seid bereit“. Kinder und Jugendliche mit Kaugummiblasen tummeln sich auf einem Rummelplatz im Prenzlauer Berg. Beabsichtigt oder nicht: Etliche Fotografien zeigen die DDR als ein Soziotop, in dem sich vor allem das Kleinbürgertum recht wohl und sicher fühlte. „Man sollte bei einem Fotografen nicht darüber staunen, wie er gearbeitet, sondern höchstens darüber, was er gesehen hat“, so ein Zitat von Roger Melis. Er war das Auge der DDR, ein emphatisches, ein unverstelltes, ein kritisches Auge.
Roger Melis: Die Ostdeutschen
Fotografien aus drei Jahrzehnten
bis 28. Juli 2019
Stiftung Reinbeckhallen
Reinbeckstraße 17, 12459 Berlin
Do & Fr 16-20 Uhr, Sa, So & feiertags 11-20 Uhr
Eintritt: 5 € / ermäßigt 3 €, freitags Eintritt frei (außer an Feiertagen)
www.reinbeckhallen.de
Zur Ausstellung erschienen der Begleitband Roger Melis: Die Ostdeutschen mit Reportagen und Porträts aus dem Nachlass sowie eine Neuausgabe des Fotobandes Roger Melis: In einem stillen Land.
Während der Ausstellung sind beide Titel zusammen im Schuber zum Sonderpreis von 48 Euro erhältlich, einzeln je 28 Euro.
www.lehmstedt.de
Titel zum Thema Reinbeckhallen:
Staunen darüber, was Roger Melis gesehen hat
Ausstellungsbesprechungen: Roger Melis (1940-2009) war einer der bedeutendsten Fotografen der DDR. Zehn Jahre nach seinem Tod widmet ihm die Stiftung Reinbeckhallen in Oberschöneweide die bislang umfangreichste Retrospektive ...
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