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Der Weg zur Kunst führt durch die Nase. Sissel Tolaas in der Schering Stiftung

von Urszula Usakowska-Wolff (23.06.2019)
vorher Abb. Der Weg zur Kunst führt durch die Nase. Sissel Tolaas in der Schering Stiftung

Porträt Sissel im Labor
Sissel Tolaas im Smell Re_search Lab, Berlin-Wilmersdorf, 2009
Foto © Alexandra Daisy Ginsberg


Die Ausstellung 22 – Molecular Communication von Sissel Tolaas in der Schering Stiftung

Es blubbert, es brodelt in dem spärlich von unten beleuchtetem, nicht allzu großem Ausstellungsraum der Schering Stiftung, den Sissel Tolaas in ein Labor verwandelt hat. Diverse gläserne Gefäße hängen unter der Decke oder stehen am Boden: Titrierapparate, Bürettenflaschen, Abdampfschalen, Messkolben, Trockenrohre. Sie fügen sich zu einem eigentümlichen Kronleuchter zusammen, der aus kommunizierenden Röhren zu bestehen scheint. Und in der Tat kommunizieren die mit verdampfenden Flüssigkeiten gefüllten Apparaturen der gläsernen Maschine zwar nicht miteinander, dafür umso stärker mit dem Publikum, das sich in eine Gerücheküche versetzt fühlt. Es ist eine unsichtbare 22 – Molecular Communication, die dort inszeniert wird und auf die Nase zielt. Die Düfte, die es dabei einzuatmen gilt, wabern wie Nebel durch den Raum, sind aber ein starkes olfaktorisches Erlebnis, das den lange zu wenig beachteten Geruchssinn in den Mittelpunkt der Wissenskunst stellt. Bisher war der mehr oder weniger sensible Riecher ein Sujet, das vor allem die Fantasie der Schriftsteller beflügelte: Gogol ließ in der gleichnamigen Novelle eine menschgewordene Nase 1836 durch Sankt Petersburg irren, Proust begann 1909, vom Duft des im Tee getünchten Gebäckstücks Madeleine angeregt, seine Suche nach der verlorenen Zeit.

Smell is beautifull

Geruch und Gedächtnis: Sie hängen auch in den olfaktorischen Installationen von Sissel Tolaas eng zusammen. Die 1961 im norwegischen Stavanger geborene und seit drei Jahrzehnten in Berlin lebende Künstlerin scheint eine Wahlverwandte Leonardo da Vincis, eine der Renaissance entsprungene Polyhistorin zu sein. Ihre Energie, Mobilität, ihr Wissensdrang und ihre Schaffenslust sind kolossal. Sissel Tolaas ist eine wahre Tausendsassa, die auf vielen Gebieten erfolgreich agiert. In nur sieben Jahren, von 1981 bis 1988, studierte sie Mathematik, Chemie, Linguistik und Kunst an den Universitäten in Oslo, Moskau, Leningrad, Warschau, Oxford und Princeton und lernte neun Sprachen. Schon früh begann sie sich die Welt an verschiedenen Orten zu erriechen und kam dabei wohl zum Schluss: Smell is beautifull. Seit Anfang der 1990er Jahre sammelt und archiviert sie in ihrem Berliner Labor Geruchsproben, auch solche, die anderen zum Himmel stinken, weil sie ekelerregend sind: von tierischen und menschlichen Exkrementen, ranzigem Öl, vergammelten Früchten und Leichen. Diese Proben nimmt sie an den von diesen Gerüchen geprägten Orten mit einem kleinen Staubsauger auf. Sie kreiert Duftkarten der Metropolen, schafft Smellscapes, darunter einen Geruchsraum der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges im Militärhistorischen Museum Dresden, stellt ihre Dienste auch Kosmetikkonzernen und Hotelketten zur Verfügung, für die sie Corporate-Düfte entwickelt. Sie selbst bezeichnet sich als „professional inbetweener“, eine Person, die sich zwischen Kunst, Wissenschaft und deren Sponsoren bewegt. Zu den letzteren gehört die International Flavors & Fragrances Inc.(IFF), der größte Produzent von Duft- und Aromastoffen mit Sitz in New York. Und von Sony wird Sissel Tolaas dabei unterstützt, Nasalo, eine Sprache, die die Vielfalt der Gerüche benennt und beschreibt, zu erfinden und zu perfektionieren.

Rätselhafte Zahl 22

Im neuesten Smellscape unter dem Titel, in dem die rätselhafte Zahl 22 steht, soll es auch um die Verbindung des Olfaktorischen mit dem Historischen gehen. Doch obwohl es im Ausstellungsraum der Schering Stiftung ziemlich hell ist, tappt der kunstfreundliche und wissbegierige Mensch zuerst im Dunklen. Was hat diese 22 zu bedeuten? Eine Schnapszahl? Die 22 Pfade der Kabbala? Der Wandtext trägt nur bedingt zur Aufklärung bei: „Für die Ausstellung 22 – Molecular Communication ermittelt Tolaas den Duft der Berliner Müllerstraße im Stadtteil Wedding. Dieser Ort ist für die Geschichte der Schering Stiftung von besonderer Bedeutung: Ende der 1860er-Jahre hatte der gelernte Apotheker Ernst Schering die gesamte Chemikalienproduktion vom Stammhaus, der Grünen Apotheke in der Chausseestraße, in eine größere Produktionsstätte in der Müllerstraße verlegt und dort den Grundstein eines florierenden Pharmageschäftes gelegt, das mehr als ein Jahrhundert lang den Industriestandort Berlin prägte.“

Wind und Wandel

Es gibt in der Installation über die molekulare Kommunikation auch andere historische Bezüge. Weil die Schering Aktiengesellschaft 2006 von Bayer Pharma AG übernommen wurde, wanderte das Labor des Apothekers Ernst Schering ins Deutsche Technikmuseum nach Kreuzberg. Ein Dutzend seiner gläsernen Gefäße integrierte Sissel Tolaas in ihr olfaktorisches Werk, das jetzt in der Schering Stiftung Unter den Linden den Geruchssinn herausfordert. Eine andere Geruchslandschaft der professionellen inbetween*erin wird am 18. April, um 19 Uhr, in der Galerie Wedding eröffnet. Wenn man ihre Seite aufruft, wird klar, was sich hinter der rätselhaften 22 verbirgt: „Für die Ausstellung 22 ermittelte Tolaas den Duft der Berliner Müllerstraße im Stadtteil Wedding. Der Titel bezieht sich auf die Anzahl der 22 Windmühlen, die dort im 18. und 19. Jahrhundert betrieben wurden und der heutigen Hauptverkehrsachse ihren Namen gaben.“ Es ist, wie die Galerie ankündigt, „eine Ausstellung für die Nase“, in der Sissel Tolaas nicht nur „die unsichtbaren, olfaktorischen Geschichten der lebendigen und sich ständig im Wandel befindenden Müllerstraße erzählt“, sondern auch „das Eintauchen in die diversen Gerüche und Schichten ihrer Vergangenheit erlaubt. Durch Wind aktiviert, wird in der Ausstellung unmittelbar auf die Standorte der Windmühlen verwiesen, die einst die Müllerstraße säumten.“ Hoffentlich wird sich diese Nachricht nicht nur in der Weddinger Hauptverkehrsachse mit Windeseile verbreiten.

Sissel Tolaas: 22 – Molecular Communikation
bis 24. Juni 2019
Schering Stiftung
Unter den Linden 32-34
10117 Berlin
Do-Mo 13-19 Uhr
Eintritt frei
scheringstiftung.de

Sissel Tolaas – 22
19. April-1. Juni 2019
Galerie Wedding – Raum für zeitgenössische Kunst
Müllerstraße 146/147
13353 Berlin
Di-Sa 12-19 Uhr
Eintritt frei
galeriewedding.de

Urszula Usakowska-Wolff

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