16 Uhr: im Rahmen der Ausstellung »Chaos & Ordnung«. Photocentrum × Kunstquartier Bethanien | Projektraum | Mariannenplatz 2 · 10997 Berlin
Krise, Überflutung, soziale Zerwürfnisse, Armut, Ungerechtigkeit, Besetzung, Kolonie, Diktatur... eine lange Liste dystopischer Zustände. Worte, mit denen die Lage auf den Philippinen zusammengefasst werden könnte. Bei den aktivistischen Filmarbeiten von Kiri Dalena kommen diese Worte jedoch nicht vor. Ihre Arbeiten, die aktuell im Neuen Berliner Kunstverein zu sehen sind, zeigen soziale Missstände und politischen Machtmissbrauch. Doch vor allem zeugen sie vom Zusammenhalt der Menschen. Die Philippinen standen jahrhundertelang unter kolonialer Herrschaft, zuerst von Spanien und dann, unterbrochen durch eine Revolution, wurde es zur US-Amerikanischen Kolonie und während des Zweiten Weltkrieges von Japan. Es folgten Autokratie und Diktatur. Noch heute werden Menschenrechte missachtet. Das Land ist politisch instabil, viele Menschen werden diskriminiert.
Dalena porträtiert mit scharfer Linse. Ihre Bilder sind nicht romantisch, werden nicht verklärt wie: „ländliche Armut ist schön, weil pur“. Sie montiert Szenen von Landschaften und Natur zusammen mit Menschen im alltäglichen Miteinander. Ihre Bildsprache ist intuitiv und simpel, die Verfremdungseffekte sind offensichtlich und so wirken ihre Arbeiten integer und ehrlich. Beispielsweise wird der Film „Requiem for M“ (2010) rückwärts abgespielt. Die Menschen laufen nach hinten, Blüten, die zu Boden gestreut werden, fliegen den Menschen in die Hände. Die Arbeit zeigt die Beisetzung der Ermordeten des Maguindanao-Massakers von 2009. Damals überfielen Paramilitärs den Konvoi von Angehörigen eines Gouverneurskandidaten, es gab 58 Tote, darunter 32 Journalisten. Wenn die Zeit zurückgedreht würde, wenn das Massaker nicht gewesen wäre, was wäre heute? Alles dreht sich.
2016 proklamierte die philippinische Regierung die Ermordung drogenabhängiger Menschen, der sogenannte „war of drugs“. Dabei starben tausende Menschen, die Hinterbliebenen sind inhaftiert und leben in Angst. Dalena hat zusammen mit der Organisation „Human Rights Watch“ mit Kindern der Familien Kontakt aufgenommen. Die Filmarbeit „Alunsina“ (2020) dokumentiert das Projekt mit dem Kunstkniff, dass alles verkehrt herum gefilmt wurde. Die Realität steht auf dem Kopf. Wir sehen den Kindern beim Zeichnen zu und wie sie sich erinnern. Dabei entwickeln ihre Bilder ein Eigenleben, beginnen zu laufen, zu tanzen, zu blühen.
„Life Masks“ (seit 2013) zeigt eine Reihe Porträtfotografien, die sich im ganzen Raum auf die Wände verteilen. Zu sehen sind Menschen, die Dalena nahestehen sowie in den Protestbewegungen eine bedeutende Rolle spielen. Sie sitzen oder stehen, die Komposition ist streng und so schauen uns die Gipsabgüsse der Gesichter unverwandt an – starr, unbewegt, leblos, archaisch. Mit der Verdeckung werden die Personen anonymisiert, zu ihrem Schutz. Doch vor allem geben diese Totenmasken einen materiellen Abdruck ihres Lebens, eine Spur ihrer Persönlichkeit - über den Tod hinaus.
Verschwinden, auslöschen – die Methode wird auch in „Erased Slogans & Books of Slogans“ (seit 2008) weitergeführt. Die Fotografien zeigen Proteste aus den 1970er-Jahren. Sie richteten sich gegen die autoritäre Regierung, die ab 1972 die Demonstrationen mit Gewalt niederschlug. Die Fotografien sind aus dem Archiv einer sozial-liberalen Tageszeitung. Dalena hat sie überarbeitet. Nun tragen die Protestierenden Schilder und Banner mit verblendeten und ausradierten Slogans. Damit verdeutlicht sie die Zensur: Die Pressebilder hören auf zu sprechen, der Protest wird namenlos und unsichtbar. Die ausgelöschten Slogans sind in einem Buch abgedruckt, je Slogan eine Seite. Mit der Trennung von Text und Bild sorgt Dalena für eine Art Archivierung, wo Medien aus konservatorischen Gründen je nach Eigenschaft separiert werden. Es scheint, als bräuchten Text und Fotografie ihre je eigene Aufbewahrungsweise. Die „Books of Slogans“ führt sie bis heute weiter – die Farbe des Einbands markiert die politischen Inhalte.
Mit Archivmaterial Kiri Dalena auch bei „Snare for Birds“ (2021) und „Birds of Prey“ (2023). Die Fotografien entstanden Ende des 19. Jahrhunderts, als die US-Regierung die Öffentlichkeit davon überzeugen wollte, dass die philippinische Bevölkerung nicht selbstbestimmt handeln könne und eine Besatzung braucht. Gezeigt werden vor allem indigene Personen, frontal aufgenommen. Schirmherr der Aktion war ein ehemaliger Zoologe und so wirken diese Fotos wie medizinische Aufnahmen mit Karteinamen und phänotypischen Kategorisierungen sowie kriminalisierenden und negativen Interpretationen. Dalena hat die Menschen mit Bleistiftlinien überzeichnet, die Striche bilden eine dicke, schwarze metallglänzende Schicht und ziehen tiefe Furchen in das Papier. Der Strich ist energisch, die Wut von Dalena offensichtlich. Ihr politischer Aktivismus ist Teil ihrer Kunst – ohne Umschweife, ohne Verkleidung, sondern ganz direkt und unmittelbar.
Kiri Dalena
7. Dezember 2024 – 2. Februar 2025
Öffnungszeiten
Di–So 12–18 Uhr / Do 12–20 Uhr
Neuer Berliner Kunstverein
Chausseestrasse 128/129
10115 Berlin, Deutschland
www.nbk.org
Titel zum Thema nbk:
Kiri Dalena im Neuen Berliner Kunstverein: Was zu Boden fällt, beginnt zu fliegen
Ausstellungsbesprechung: Krise, Überflutung, soziale Zerwürfnisse, Armut, Ungerechtigkeit, Besetzung, Kolonie, Diktatur... eine lange Liste dystopischer Zustände. Worte, mit denen die Lage auf den Philippinen zusammengefasst werden könnte.
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