19 Uhr: Künstlerin mit dem Schwerpunkt Zeichnung. Im Rahmen der Finissage zur Ausstellung "(Dis)ordering Things". oqbo | raum für bild wort ton | Brunnenstr. 63 | 13355 Berlin
Um den Bedarf an Steaks, Koteletts und Schinken abzudecken, werden hierzulande 55 Millionen Schweine geschlachtet. Diese „Versorgung“ stellt eine der größten Schlachtbetriebe der Welt sicher: die „Tönnies Holding“ in Nordrhein-Westfalen, mittlerweile ein Global Player der weltweiten Lebensmittelindustrie.
Die Filmemacherin Julia Lokshina (Absolventin der Dokumentar-Abteilung der HFF München) hat sich drei Jahre mit dem Unternehmen beschäftigt, lange bevor die Corona Skandale Tönnies im Sommer 2020 in den Fokus der Medien rückte. Einige Pressemeldungen waren ihr damals aufgefallen. Berichtet wurde u.a. von einem polnischen Arbeiter, der von einem Fließband zerstückelt wurde oder von einer Frau, Michaela, die ihr neu geborenes Kind auf einem Parkplatz ausgesetzt hatte. Einzelschicksale, die beispielhaft für ein funktionierendes System der Ausbeutung, der Macht und der Ignoranz stehen.
Der Kapitalismus oder anders ausgedrückt der Reichtum von „Fleisch- und Lebensmittelkönigen“ beruht auf Zuständen, die sich seit über 100 Jahren nicht geändert zu haben scheinen. Vieles erinnert auf frappierende Weise an Strukturen wie sie Bertold Brecht, auf den noch zurückzukommen sein wird, beschrieben hat. Bei Tönnies kommen heutzutage 80 Prozent der Arbeitenden aus osteuropäischen Ländern. Sie alle sind Armutsemigranten. Angeworben über Subunternehmen arbeiten sie unter prekären Bedingungen unterhalb des Mindestlohns. Sie verstehen kein deutsch, sind vollkommen unorganisiert und haben keinerlei hier gültige Verträge, das heißt auch keinerlei Arbeitnehmerrechte.
Julia Lokshina versucht nun diesen Menschen eine Stimme, ein Angedenken, zu geben. Ihr Film beginnt mit einem fast theatralischen Erinnerungsmonolog an den im Fließband getöteten polnischen Mann. Dazu sehen wir eine lange Einstellung eingepferchter Schweine. Allerdings charakterisiert dieses irritierende Intro nicht den weiteren Film, der klassisch dokumentarisch vorgeht. Schnell wird deutlich, wie schwierig es ist Menschen zum Reden zu bewegen, die vor allem Angst haben. Angst vor Repressalien, vor Lohnkürzungen, vor dem Rauschmiss. Und wie zu Bildern kommen, wenn man nicht filmen darf?
So bleibt der Regisseurin lediglich eine Interviewpartnerin, Inge Bultschnieder, eine Art Streetworkerin und engagierte Enthusiastin, als zentrale Figur, die wir über die gesamte Länge des Films begleiten. Welche genaue Funktion sie jedoch hat, bleibt unklar. Diese Frau jedenfalls kümmert sich um Michaela nach ihrer Haftstrafe, sie organisiert Demonstrationen, spricht mit Politikern, hilft den Betroffen. All dies wird in einzelnen, mehr oder weniger verknüpften und häufig auch dekontextualisierten Szenen gezeigt. Man lernt auch einen engagierten katholischen Pfarrer kennen, der in seinen Predigten die Missstände offen anprangert. Dagegen gesetzt sind lapidare Ausführungen von Politikern und die unverhohlen zynischen Töne der Tönnies Funktionäre. Diese behaupten, jeder könne sich seinen Arbeitsplatz frei wählen, niemand wäre gezwungen nach Deutschland zu kommen. Nur dass kein Deutscher zu diesen Bedingungen arbeitet, das kommt nicht zur Sprache. Oft 17 Stunden im Stehen, in gleißendem Licht, in einem Höllenlärm, in Gestank und im Takt der Maschinen - und das alles unter Mindestlohn und noch dazu mit Abzügen für eine jämmerliche Unterbringung. Immerhin schafft es die Regisseurin, ein Paar aus Litauen vor der Kamera zu bringen, das von diesen Arbeitsbedingungen berichtet. Auf das Gelände von Tönnies müsse man gehen, in den Hallen filmen, sagt der Mann, da bekäme man die echt harten Sachen zu sehen...
Und dann ist da noch die Schüler-Theatergruppe. Die Regisseurin hatte im Laufe der Dreharbeiten einen Lehrer gefunden, der bereit war, Brechts Stück
Die heilige Johanna der Schlachthöfe mit einer Schulklasse zu proben. Was als pfiffiger Kunstgriff gedacht war, um einerseits zu Bildern zu kommen und andererseits Polaritäten aufzubauen, funktioniert allerdings nicht. Die Grundidee war wohl bildungsnahe, gut behütete Wohlstandskinder, letztendlich uns, mit den abgedichteten Verhältnissen der Arbeitsemigranten zu konfrontieren. Was man zu sehen bekommt, sind jedoch tendenziell gelangweilte Abiturienten, denen die marxistischen Theorien Brechts ebenso fern sind wie der 17-stündige Arbeitstag bei Tönnies.
So bleibt die Erkenntnis, dass sich die Welt seit Bertold Brecht nicht sehr geändert hat. Der Grad der Entfremdung ist allerdings auf ein noch höheres Level gestiegen. Der Kapitalismus ist seit der Heiligen Johanna konzentrierter, vor allem aber abstrakter und noch trickreicher geworden. Tönnies hat längst entdeckt, dass Fleischkonsum und Fleischverzicht fürs Geschäft kein Gegensatz sein muss. Die Holding verdoppelt derzeit ihre Produktionskapazitäten für vegetarische und vegane Lebensmittel.
Der Film bleibt leider weit hinter meinen Erwartungen zurück. Ein wichtiges Thema allein genügt nicht, wenn weder ein überzeugendes Regie- noch Montagekonzept existiert.
„Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ erhielt beim Max Ophüls Filmfestival 2020 den Preis für den besten Dokumentarfilm. Ab 12.3. ist der Film als DVD und VOD verfügbar.
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