19 Uhr: Künstlerin mit dem Schwerpunkt Zeichnung. Im Rahmen der Finissage zur Ausstellung "(Dis)ordering Things". oqbo | raum für bild wort ton | Brunnenstr. 63 | 13355 Berlin
Wer die flächendeckende Überspülung der Kinolandschaft mit „feel-good movies“ satt hat, der ist mit dem neuen Film von Abel Ferrara gut bedient. Doch Vorsicht, nicht nur inhaltlich auch ästhetisch ist „Siberia“ eine Herausforderung. Selten sah man in letzter Zeit im Kino dergleichen ungeheuer verstörende wie schöne Bilder - sofern man die Bereitschaft hat, einem männlichen Fiebertraum zu folgen. Logik und Narration spielen hier keine Rolle, denn „Siberia“ verknüpft Obsessionen, Traumata, Traumbilder eines nicht mehr „ganz“ jungen Mannes, Clint (Willem Dafoe), auf der Suche nach sich selbst. Der Film ist düster, gewalttätig, aber auch zart und erotisch. Eine Reise durch Kälte, Feuer und Einsamkeit – krass und kompromisslos.
Clint lebt zunächst allein in einer Hütte in Eis und Schnee, irgendwo im Nirgendwo. Von hier aus startet sein quasi halluzinatorischer Trip in eine Welt, die keinen Halt mehr zu bieten scheint. Er fällt tief in seelische Abgründe. Dabei steht über allem die Sehnsucht nach Erlösung, nach Vergebung, nach einem quasi paradiesischen Urzustand, der weder Schuld noch Gewissen kennt. Bilder, die Ängste, Wünsche, brutale Phantasien konzentrieren, tauchen auf, brechen unvermutet ab, oder überlagern und verschränken sich. Gute und böse Geister kreuzen Clints Visionen. So sucht er Rat bei einem Zauberer/Magier im Wald, trifft auf nackte Zwerge in einer unheimlichen Höhle, oder erhält Belehrungen eines philosophierenden Schamanen in der Wüste (herrlich der Satz: „respect the presence of sleep“). Seine längst verstorbenen Eltern („deine Seele ist außerhalb von dir - geh und finde sie“, sagt der Vater) tauchen ebenso auf, wie sein Bruder und seine zahlreichen verflossenen Liebschaften. Viele nackte, schöne Frauen kommen vor, viel Blut, viel Horror auch. Eine katholische Vorhölle könnte das Ganze sein, durch die Clint wandern muss.
Treu ist diesem Egomanen einzig ein Rudel Huskys. Sie ziehen und begleiten ihn durch fast alle „Stationen“. Ihr Gekläffe und Geknurre, seine Schritte im Schnee und Sand, überhaupt die Geräusche, der sorgfältig komponierte Ton und die zum Teil großartigen und rätselhaften Bilder machen aus diesem Film einen faszinierenden, spannungsreichen (und ja, männlichen) Alptraum, offen für Interpretationen bzw. eigene Einfälle. Und Willem Dafoe ist großartig. Er spielt nicht nur den Clint, sondern fast alle männlichen Figuren mit ungeheurer Intensität, zuweilen auch schalkhaft.
Am Ende ist man wieder im Eis angelangt. Die anfängliche Behausung ist abgebrannt. Es stapft eine fellbehangene Figur durch den Schnee zu Clint. Sie hat zwei Fische mitgebracht, einer wird alsbald gebrutzelt, der andere bleibt in einer Pfanne liegen, wo er zu sprechen anfängt. Ein unerwartet witziges Schlussbild, vor allem auch deshalb, weil jeder etwas anderes meint verstanden zu haben...
Abel Ferrara sagte auf der Pressekonferenz der Berlinale, wo der Film seine Weltpremiere feierte, er spüre immer noch einen großen Appetit darauf, was Kino alles sein kann. Ein schönes Diktum dieses alten Hasen des Filmbusiness.
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